Neue Zürcher Zeitung, 6. Juni 2007

mit Angela Schader.

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Arabische Autoren finden in Europa ein neues Verhältnis zur Heimat

Sie stammen beide aus krisen-
geschüttelten Ländern und leben seit langem in Europa: Der Iraker Salim Matar und der Sudanese Tarek Eltayeb, die am Internationalen Poesiefes-
tival al-Mutanabbi zu Gast waren, berichten über ihre viel-
schichtige Beziehung zur Heimat.

Wenn man ihn auf das Schreiben zwischen den Kulturen anspricht, wehrt Tarek Eltayeb ab. «Ich sage lieber, ich schreibe oder ich lebe in zwei Kulturen - denn ‹zwischen› heisst, dass ich immer irgendwo draussen bin.» Doch der 1959 geborene Schriftsteller, der als Sohn sudanesischer Eltern in Kairo aufgewachsen ist, lebt seit seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr in Wien und fühlt sich in beiden Welten gleichermassen zu Hause. «Mir fällt aber auf, dass ich immer, wenn ich etwas erzähle und dabei den Ausdruck ‹bei uns› verwende, die jeweils andere Heimat meine: die arabische, wenn ich in Europa bin, und Österreich, wenn ich in Ägypten bin.»

Ferne schafft Nähe

Salim Matars Verhältnis zu seinen beiden Heimatländern ist weniger ausgewogen. Als Mitglied der kommunistischen Partei, die von den Schergen des Baath-Regimes erbarmungslos verfolgt wurde, ist er 1978 mit zweiundzwanzig Jahren aus dem Irak geflohen. Aber diesen Schritt, den er auch als Verrat an Familie und Heimat empfand, hat er sich nie ganz verzeihen können: «Ich lebe nun seit sechsundzwanzig Jahren in Genf, und wenn mich jemand nach meiner Beziehung zur Schweiz fragt, sage ich: Die Schweiz ist meine Mutter und der Irak mein Vater. Der Vater verkörpert immer die Macht, und in meinem Fall ist diese Macht gleichbedeutend mit dem Staat. Die Beziehung zur Mutter ist instinktiver und damit viel freier - und so ist meine Beziehung zur Schweiz. Meine Beziehung zum Irak dagegen ist keine Liebe, sondern eine der Schuldhaftigkeit.»

Erstaunlich ist bei beiden Schriftstellern die Art und Weise, wie die Distanz das Verhältnis zur Heimat beeinflusst hat. So verbrachte Tarek Eltayeb zwar nur kurze Zeit im Land seiner Eltern; doch die Nöte des Sudans - Dürrekatastrophen, Bürgerkrieg, die repressive Politik des islamistischen Regimes - sind in seinen Romanen sehr präsent. Das habe zum einen damit zu tun, erklärt Eltayeb, dass das Kairoer Stadtviertel, in dem er aufwuchs, eine Art sudanesische Exklave war, wo man Brauchtum und Sprache des Landes pflegte; anderseits aber auch damit, dass das Leben in Europa seinen Blick für das Herkunftsland geschärft habe: «Gerade weil ich so weit weg war, hatte ich das Gefühl, ich müsse noch mehr aufnehmen, mich noch mehr interessieren, über alles Bescheid wissen. Wenn ich mit Sudanesen oder Ägyptern spreche, wundern sie sich oft, woher ich all diese Informationen habe.» Dazu trage die Infrastruktur, die Europa biete, massgeblich bei: «Hier erhalte ich problemlos alle Bücher, auch solche, die bei uns verboten sind. Ich kann alle Fernsehkanäle empfangen, habe Internet und Telefon - so bewege ich mich von Europa aus sehr schnell in der arabischen Welt.»

Salim Matar dagegen kam mit einem tiefen Hass gegen seine Vergangenheit und seine Heimat nach Europa - und, wie er feststellen musste, mit völlig falschen Vorstellungen. «Ich hatte geglaubt, dass die Europäer sich in keiner Weise um Spiritualität, um Religion oder Geschichte scherten und dass für sie nur zwei Dinge zählten: die Wissenschaft und die Zukunft. Die ganze Vergangenheit, meinte ich, sei ihnen nur für den Mülleimer gut. Und so wollte auch ich es halten. Aber als ich in Europa ankam, war genau das Gegenteil der Fall. Ich sah, dass die Europäer Geist und Moral haben, dass sie die Liebe und das Zögern kennen, die Aufopferung und die Lüge - wie alle Menschen. Die Religion beschäftigt sie, und sie sind verliebt in die Geschichte. In der Tat sind es die Europäer, die die Geschichte sakralisieren, sie richten Museen ein, die wahre Tempel der Historie sind. Und als ich das sah, begann ich mich zu schämen - für all die Verachtung, die ich gegenüber dem Irak empfunden hatte.»

Matar begann daraufhin, sich in seinem Schaffen intensiv mit der irakischen Identität auseinanderzusetzen. «Das Problem des Iraks besteht darin, dass man zwar einen Staat gegründet, eine Armee aufgebaut und eine Verwaltung eingerichtet hat - aber gleichzeitig hat man es versäumt, eine Kultur der Identität zu schaffen. Für einen arabischsprachigen Iraker existiert der Irak nicht; für ihn zählt einzig die arabische Nation, die Gesamtheit der arabischen Länder. Ein Problem in Algerien beschäftigt ihn mehr, als was im Irak mit einer anderen ethnischen Gruppe passiert. Die Kurden träumen von einer kurdischen Nation, die schiitisch-islamistische Strömung will ein schiitisches Imperium, und die Sunniten wollen dasselbe - eine Machtsphäre, die sich vom Balkan bis Pakistan erstreckt. Für die politischen Parteien gibt es den Irak schlichtweg nicht. Das ist der fundamentale Widerspruch. Das hat nichts mit der Realität zu tun, denn Tausende von Irakern sind in erster Linie Iraker: von der Lebensrealität, vom Erbe, auch vom Gefühl her. Aber die Politiker und Ideologen sind aus historischen Gründen aufs Ausland fixiert. Realistischerweise müsste man sagen: Vergessen wir all diese Grossreichsträume, und bringen wir erst einmal unser Haus in Ordnung; nachher kann man vielleicht eine Union gründen. Warum sollte, was in Europa geschehen ist, nicht auch für uns Araber möglich sein?»

Die Rolle der Diaspora

Die Argumentation ist schlagend - aber werden solche Stimmen in der arabischen Welt überhaupt wahrgenommen? Tarek Eltayeb äussert sich optimistisch: Schon die Tatsache, dass prominente Intellektuelle wie etwa der progressive ägyptische Religionsgelehrte Nasr Hamid Abu Zaid ins Exil gezwungen würden, habe die Menschen aufgerüttelt: «Sie haben gesehen, dass sich so etwas in Ägypten ereignen kann, das sich immer mit seinen demokratischen Verhältnissen brüstet.» Die Diaspora der Intellektuellen beginne sich, nicht zuletzt dank dem Internet, im arabischen Raum durchaus Gehör zu verschaffen.

Begriffe wie «Euro-Islam» - die Idee eines progressiven, von europäischen Muslimen ausgeformten Islamverständnisses - betrachtet Eltayeb allerdings mit Skepsis: «Natürlich gibt es diese Entwicklung, aber warum sieht man sie nicht einfach als eine offene Tür für den Islam, ohne dieses ‹Euro› dazuzusetzen? In der arabischen Welt wird man sofort sagen: Das ist fremd, das ist nicht von uns.» Und auch der vielbeschworene interkulturelle Dialog müsse noch einen Schritt weitergehen: «Wir sollten nicht nur die einladen, die ohnehin unsere Ansichten teilen. Nein, ich will einen Gegner haben - nicht, um ihn als Feind zu behandeln, sondern damit wir uns gemeinsam an den Tisch setzen und jeder seine Sicht der Dinge darstellen kann. Dann können wir sagen: Gut, wir sind uns in diesem und jenem Punkt einig, von da aus können wir weitergehen.»

Das Internationale Poesiefestival al-Mutanabbi gastierte vom 1. bis zum 3. Juni in Zürich, weitere Lesungen finden in Basel, Bern, Genf und Lugano statt.